Alwine

Die Frau, die Alwine heißt, sitzt auf einem Stuhl vor dem Fenster und sieht hinaus. Sie sieht nichts weiter als das immer heller werdende Nebelgrau des hereinbrechenden Tages. Eine der beiden Katzen miaut und springt vom Hof auf das Fensterbrett, sieht Alwine an und miaut wieder. Alwine regt sich nicht auf ihrem Stuhl. Sie sehen sich in die Augen, Alwine und die Katze.

Ich werde der Katze jetzt nichts zu fressen geben. Soll sie warten. Nie hab ich sie gekrault oder gestreichelt, geschweige denn hochgenommen. Ich gebe beiden zu fressen, deshalb kommen sie zu mir.

Jetzt möchte ich beide Hände in ihr Fell vergraben.

Aber Alwine bleibt sitzen, die Hände im Schoß. Die Graue setzt sich zurecht, zieht Pfoten und Kopf ein, legt den Schwanz um die Tatzen und schließt die Augen, die soeben noch wie Bernsteine im Fell saßen.

Gegenüber sind die Umrisse von den Stallgebäuden nur zu ahnen, genauso der Misthaufen, die alte Schwengelpumpe und der große Garten, in dem Herrmann dieses Jahr Kartoffeln angebaut hat, lange Reihen Kartoffeln bis hinten zum Graben.

Herrmann liegt im Bett, im rechten, wo er immer liegt. Ich kann seine gleichmäßigen Atemzüge hören und bin froh, dass er schläft. Die Nacht war anstrengend. Das zweite Mal hat sein Herz solche Sachen gemacht, noch einmal und er wird ewig schlafen. Ich weiß nicht, was besser ist für ihn, so leben, oder? Was für mich besser wäre, daran wage ich nicht zu denken.

Das Haus ist so still, hier auf der Hofseite sind auch die Traktoren kaum zu hören. In der linken Seite vom Hof wohnten meine Eltern. Vor zehn Jahren starb Vater, vor drei Jahren Mutter. Ich hatte auch sie schon gepflegt. Und jetzt Herrmann, den ungeliebten Mann. Wie oft hab ich in den Jahren gegrübelt, ob ich mich von ihm trennen sollte. Das Leben lief mir weg, ich bin ja völlig versackt zwischen Arbeitengehen in der Kleinstadt, Arbeit auf dem Feld, Schweine und Kuh im Stall, Arbeit um die Tochter, die Eltern. Abends dann Herrmann. In diesen Momenten hab ich immer das Dorf gehaßt, was keine Möglichkeiten hatte, außer Sonnabends tanzen zu gehen und jemanden wie ihn aus dem Nachbardorf kennenzulernen.

Alwine sieht auf sein Bett. Seine rechte Hand liegt auf der Decke, die schwere braune Hand, hart und rissig, mit den nie ganz sauberen Fingernägeln.

Er konnte ja zupacken, und ich sollte von Vater den Hof übernehmen. Den Scheidungsgedanken hab ich nie ernsthaft zu Ende gedacht. Ganz allein wollte ich nicht sein, dann schon lieber er, Herrmann.

Ich war immer froh, diese Hand nie so gespürt zu haben wie unsere Tochter beispielsweise, als sie noch klein war. Er hatte sie immer schon bei harmlosen Anlässen verprügelt. Und ich hab mich nicht schützend vor sie gestellt. Die Tochter war wie er, sollten sie es unter sich ausmachen. Jetzt wohnt sie eine Autostunde entfernt in einem anderen Dorf. Sie wollte nicht auf diesem Hof leben, obwohl Herrmann und ich ihr die Scheune ausgebaut hätten, mit Bad und Heizung.

Wie tief Herrmanns Augenhöhlen sind. Und die Falten darum. Er hat wie ich nur gearbeitet. Manchmal kam es mir vor, als wollten wir uns gegenseitig nur beweisen, dass wir es noch können: Arbeiten. Jetzt haben wir ein gutes Auto, etwas Gespartes, und der Tochter konnten wir ohne Mühe eine Hochzeit mit hundert Gästen ausrichten. Was ja auch sein muss. Und was nun? Das Einzige, was ich noch hab, liegt dort in diesem Bett. Schon ist es mir egal, dass ich ihn nicht liebe. Auch die Tochter liebe ich eigentlich nicht und würde sie doch gern hier in der Nähe haben. Aber meine Tochter ist nicht mal gekommen, als es mir mit vierzig Fieber so schlecht ging. Herrmann war der Einzige. Was wenn er jetzt stirbt?

Ich denk nicht weiter. Wenn es soweit ist, wird es früh genug sein, daran zu denken. Jetzt ist nur der Tag wichtig und die nächste Nacht, die muss er überstehen. Ich werd mich hinlegen müssen, bevor der Arzt mit der Schwester mittags wiederkommt.

Als Alwine die Müdigkeit bemerkt, kriecht ihr auch schon die Kälte von unten in den Rücken. Im Schlafzimmer wird nicht geheizt. Hier ist nicht der Ort zum Sitzen.

Alwine sieht auf ihre Hände im Schoß. Rauh und faltig sehen sie aus, die Fingernägel alle eingerissen. Das einzige Glatte – der Ehering. Glatt und stumpf.

Früher hab ich mit diesen Fingern Klavier gespielt. Was für ein Früher? Herrmann ertrug das Getinker, wie er es nannte, nicht. Ich ertrug nicht, dass er nur mit dem Löffel essen konnte. Mit der Zeit haben wir uns angeglichen. Als ich schwanger war, da waren wir schon verheiratet, sind wir auch nicht mehr tanzen gegangen. Natürlich nicht. Auch nicht, als die Tochter größer war und bei den Großeltern bleiben konnte. Es schickt sich nicht mehr, hab ich gesagt. Obwohl ich so gern getanzt hab. In Wahrheit hatte ich nur Angst, Paul zu treffen. Ihn hatte ich wirklich geliebt. Aber Paul hatte mal mich und mal andere und dann wieder mich. Es hat lange gedauert, bis ich von ihm geheilt war. Geheilt?

Paul lebt jetzt zwei Dörfer weiter mit Elsbeth. Ausgerechnet Elsbeth. Sie liegen auch ständig im Zank miteinander. Von ihren drei Kindern lebt eins noch zu Hause. Ein Nachkömmling, der Berti. Die Töchter studieren in Großstädten. Darum beneide ich ihn. Um die Töchter.

Alwine dreht die Hände im Schoß um und sieht auf die Innenflächen, aus deren Falten der Dreck nie ganz herausgeht, wie bei Herrmann. So ähnlich, weiß sie, dafür braucht sie schon lange keinen Spiegel mehr, sieht auch ihr Gesicht aus. Und die Haare grau, die Frisur die gleiche wie zu ihrer Hochzeit.

Die Katze miaut wieder.

Wenn nur Herrmann noch eine Weile bleibt, Liebe oder nicht.

Die Graue richtet Kopf und Ohren über das Fensterbrett nach unten. Jetzt ist auch die zweite zu hören. Die Graue richtet sich auf, streckt den Buckel hoch und sieht Alwine durchs Fenster an. Noch einmal zeigt sie die Zähne ohne Laut. Dann springt sie hinunter auf den Hof.

Alwine zieht den Morgenmantel über der Brust zusammen., knotet den Gürtel neu und geht hinüber in die Küche. Sie schmiert Leberwurst auf eine übriggebliebene Brotscheibe., schneidet diese klein und holt noch ein Stück Salami dazu.

Warum sollen die Katzen nicht auch mal was haben.

Sie geht aus der Tür, wo sie die Tiere sofort um die Beine hat, und streicht ihnen die Happen mit der Rechten vom Brett in den Napf. Als sie sich aufrichtet, trifft sie der erste Sonnenstrahl dieses Tages. Alwine hat nicht bemerkt, wie sich der Nebel auflöste.

Jetzt steht die Frau, die Alwine heißt, in der Linken noch das fettige Brett, so plötzlich ist es zu hell für ihre müden Augen, also steht sie da und saugt gierig das Licht durch die geschlossenen Lider, während die Katzen über dem Napf sitzen und nun eine der beiden zu schnurren beginnt.

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